© Volker Schubert, 2024-10-18
„c-d-e-f-g-a-h-c“ - Jedes Kind kann sie schon singen. Sie wirkt natürlich. Sie ist allgegenwärtig. Ohne sie ist westliche Musik nicht vorstellbar. Die Durtonleiter ist seit dem Barock dermaßen dominant, dass ihr anscheinend eine geheime Qualität innewohnt, die sie einzigartig macht. Tatsächlich musste aber auch sie sich erst langsam entwickeln. Bei genauerer Betrachtung ist man sogar erstaunt über die verschlungenen Pfade und Umwege, die die Entwicklung nahm. Wir wollen dem langen Weg zur Durtonleiter folgen und versuchen zu verstehen, warum der Weg so schwierig war.
Zunächst sind ein paar Begriffe zu klären. Die Höhe eines Tones ist durch seine Grundfrequenz gegeben. Zwei Töne kann man zueinander in Beziehung setzen, indem man das Verhältnis der beiden Grundfrequenzen bildet. Statt von Frequenzverhältnissen sprechen Musiker lieber von Intervallen. Einfache Frequenzverhältnisse wie 2:1 und 3:2 bekommen Namen, wie hier „Oktave“ und „Quinte“. Offensichtlich kommt es für die Identifizierung eines Intervalls nicht auf die echten Tonhöhen, sondern nur auf das mathematische Verhältnis der Frequenzen an. Beispielsweise bildet das Tonpaar 400 Hz und 600 Hz dasselbe Intervall wie das Tonpaar 200 Hz und 300 Hz. Das Frequenzverhältnis ist bei beiden Paaren 2:3, also handelt es sich beidesmal um eine Quinte – oder eigentlich, um die Quinte. Als Einführung in die physikalische Natur der Intervalle siehe zum Beispiel die Videoreihe Schubert01.
Zwischen einem Frequenzverhältnis und dessen Bruchzahl werden wir nicht streng unterscheiden; in Formeln sind oft Bruchzahlen praktischer. Traditionell benutzt man in der Musik für das Aneinanderfügen von Intervallen eine additive Sprechweise, wie etwa „Quinte plus Quarte ergibt eine Oktave“, tatsächlich multipliziert man aber die zugehörigen Frequenzverhältnisse, wie hier 3:2 · 4:3 = 2:1. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, werden wir zwischen Intervallen und dem Rechnen mit Frequenzverhältnissen unterscheiden, auch wenn ein Intervall vollständig durch sein Frequenzverhältnis definiert ist. Für ein Frequenzverhältnis p bezeichne p' das zugehörige Intervall.
Eine aufsteigende Folge von Intervallen nennt man gewöhnlich „Tonleiter“; wir sprechen lieber von Tonstufenleiter, um damit die Unabhängigkeit von absoluten Frequenzen zu betonen.
Schon in der Steinzeit hatte der Mensch offensichtlich Spaß daran, Töne zu produzieren. So hat man Flöten gefunden, die vor mehr als 35000 Jahren hergestellt wurden. Im Laufe der Zeit entdeckte der Mensch verschiedene Arten der Tonerzeugung, wie das Zupfen von Saiten oder das Schlagen von Körpern, und fand dabei natürlich auch heraus, wie sich verschiedene Tonhöhen erzeugen ließen. Neben dem Material des Instruments waren offensichtlich auch verschiedene Größen der Tonerzeuger von Bedeutung, wie die Position der Löcher einer Flöte, die Länge und Dicke von Saiten, und das Gewicht eines Körpers. Ein früher Forscher hat dann irgendwann entdeckt, dass der Ton einer Saite gut zum Ton der halb so langen Saite passte, indem man etwa die Saite in der Mitte niederdrückte.
Intervalle mit einfachen Frequenzverhältnissen werden wir ebenfalls als „einfach“ bezeichnen. Das einfachste Intervall hat das Frequenzverhältnis 2:1. Wir nennen es heute Oktave, und nach Verabredung können wir es als (2:1)' schreiben. Die Töne einer Oktave empfinden wir Menschen nicht als wirklich unterschiedlich, eher als helle und dunkle Kopien voneinander. Die Einfachheit des Frequenzverhältnisses fällt somit zusammen mit der Reinheit der Klangempfindung. Es war deshalb schon immer naheliegend, die Oktave als das reinste und elementarste Intervall zu betrachten. Wir wollen das Oktavverhältnis 2:1 mit α abkürzen und die Oktave mit dem großen Alpha Α.
Das einfachste Intervall nach der Oktave ist (3:2)' – das was wir heute (reine) Quinte nennen. Die Quinte wird allgemein als reinstes und elementarstes Intervall nach der Oktave akzeptiert, denn einerseits ist 3:2 das einfachste denkbare Zahlenverhältnis nach 2:1, andererseits wird die Reinheit des Intervalls auch vom Höreindruck bestätigt. Wir kürzen das Quintverhältnis 3:2 mit β ab und die Quinte mit dem großen Beta Β.
Das einfachste Intervall nach der Quinte ist (4:3)' – das was wir heute (reine) Quarte nennen. Sein Frequenzverhältnis 4:3 ist nur etwas komplizierter als 3:2. Wir kürzen das Quintverhältnis 4:3 mit γ ab und die Quinte mit dem großen Gamma Γ. Man sieht sofort, dass Quinte plus Quarte eine Oktave ergeben, da 3:2 · 4:3 = 2:1 ist. Also ist Β + Γ = Α und βγ = 2. Man sagt, Quinte und Quarte seien Komplementärintervalle. Bezieht man Richtungen mit ein und betrachtet einen Oktavabstand als Gleichklang, kann man auch sagen: Eine Quinte nach oben ist dasselbe wie eine Quarte nach unten. In diesem Sinn sind Quarte und Quinte Spiegelbilder voneinander.
Da also die Quarte nur etwas komplizierter als die Quinte ist, und außerdem Quarte und Quinte Spiegelbilder sind, wird auch die Quarte allgemein als elementar angesehen, auch wenn sie nicht ganz so rein wie die Quinte klingt.
Heutiger |
Kürzel |
Kürzel |
Frequenz- |
Oktave |
Α (Alpha) |
α |
2:1 |
Quinte |
Β (Beta) |
β |
3:2 |
Quarte |
Γ = Α−Β |
γ = 2/β |
4:3 |
Wie kam man aber von den Bausteinen Quinte und Quarte zu einer Tonstufenleiter, also einer Zerteilung der Oktave, die fein genug war, um interessante Melodien bilden zu können?
Ein alter Ansatz war ein formales Konstrukt, das man heute als Quintenschichtung kennt. Vermutlich wurde es schon im früh-bronzezeitlichen Mesopotamien entwickelt. Man setzt dabei schrittweise immer mehr Quinten aufeinander:
Β , Β+Β = 2Β , Β+Β+Β = 3Β , … |
|
(additiv) |
, , , … |
|
(multiplikativ) |
Diese Folge von Intervallen steigt schnell an, und schon 2Β ist größer als die Oktave (als Frequenzverhältnisse 9/4 > 8/4). Doch das Ziel ist ja, die Oktave selbst in kleine Teile zu unterteilen. Überschreitet also das neu konstruierte Intervall eine Oktave, geht man wieder eine Oktave nach unten, d.h. man ersetzt 2Β durch 2Β−Α (also 9/4 durch 9/8). Damit erreicht man, dass die Intervalle nie größer als eine Oktave werden. Dieses Vorgehen nennt sich Oktavreduktion.
Eine alternative Durchführung der Quintenschichtung mit Oktavreduktion ist, abwechselnd eine Quinte nach oben und dann wieder eine Quarte nach unten zu gehen. Hiermit hat man die Oktavreduktion in jeden zweiten Schritt gleich mit eingebaut. Mit diesem Verfahren wurden Saiteninstrumente tatsächlich auch gestimmt.
Je mehr Quinten man aufeinander geschichtet hat, um so mehr Oktaven muss man wieder nach unten gehen, um wieder in der Ausgangsoktave zu landen. Bei 4 Quinten muss man beispielsweise 2 Oktaven zurück, erhält also 4Β−2Α:
Die so gewonnene Oktav-reduzierte Quintenschichtung kann man schreiben als:
0 , Β , 2Β−Α , 3Β−Α , 4Β−2Α, 5Β−2Α, ... |
Man beachte, dass diese Folge von Intervallen nicht ansteigend sortiert ist, sondern größenmäßig auf und ab springt. Zwar ist die Quintenschichtung selbst eine ansteigende Folge, aber nach Oktavreduktion gilt das natürlich nicht mehr.
Mit den Abkürzungen Τ = 2Β−Α und τ = ββ/2 = 9:8 (für das zugehörige Frequenzverhältnis) kann man die Formeln etwas vereinfachen, z.Β. durch Umformungen wie 3Β−Α = Β+2Β−Α = Β+Τ. Damit schreibt sich die Oktav-reduzierte Folge der Quintenschichtung etwas einfacher als
0 , Β , Τ , Β+Τ , 2Τ , Β+2Τ , 3Τ , … |
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(additiv) |
1 , β , τ , βτ , ττ , βττ , τττ , … |
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(multiplikativ) |
Da der Mensch die Oktave fast als Gleichklang wahrnimmt, wird die Oktavreduktion in der Regel nicht explizit erwähnt, und damit ist das Verfahren zur Erzeugung von Tonstufen das einfache Prinzip der Quintenschichtung.
Aber ist das nun eine musikalisch sinnvolle Konstruktion einer Tonstufenleiter? Zwar ist die Quinte sehr einfach, doch liefert die Quintenschichtung mit Oktavreduktion alles andere als besonders einfache mathematische Verhältnisse, beispielsweise ist ττ = 81:64. Die formale Schönheit der Quintenschichtung täuscht doch eigentlich über die unschönen Intervalle in der resultierenden Tonstufenleiter hinweg.
Die Quintenschichtung hat aber noch eine faszinierende Eigenschaft: Das Frequenzverhältnis von 6Τ, der 13. Tonstufe der Folge, ist etwa 2,03. Also entspricht das Intervall 6Τ ungefähr der Oktave Α, was ein glücklicher Zufall und keineswegs ein Naturgesetz ist. Es ergeben sich damit 12 Tonstufen bzw. Intervalle, die kleiner als die Oktave sind; der 13. Ton ist praktisch die Oktave selbst. Im Prinzip könnte man die Folge noch weiterführen, aber man ist so nah an der Oktave und hat mit den zwölf Tonstufen auch schon eine so feine Aufteilung der Oktave, dass man hier die Folge gern abbricht. Tut man dies, nennt man das Ergebnis heute den Quintenzirkel.
Der Quintenzirkel mit Oktavreduktion liefert eine Zerlegung der Oktave in 12 Intervalle, was nicht wenig ist. Es ist nicht davon auszugehen, dass dies in vorantiker Zeit jemals theoretisch oder praktisch ausgeführt wurde. Eine Tonleiter war unter anderem für das Stimmen von Saiteninstrumenten interessant, wofür 12 Tonstufen sehr viel gewesen wären.
Aber auch mit der Schichtung von weniger Quinten kann man zu einer recht feinen Zerlegung der Oktave kommen. Wir präsentieren zunächst die Lösung, und begründen dann, warum diese sinnvoll ist:
Man nehme nur 6 Quinten. Aus der reduzierten Quintenschichtung 0 , Β , Τ , Β+Τ , 2Τ , Β+2Τ , 3Τ erhält man durch Sortierung eine 7-stufige Tonstufenleiter: