Der lange Weg zur Durtonleiter

‒ Die Entwicklungsgeschichte der Durtonleiter ‒

© Volker Schubert, 2025-04-14

Die Geschichte der Durtonleiter

Die Geschichte der Dur-Tonleiter

Die Entwicklung der Durtonleiter

„c-d-e-f-g-a-h-c“ - Jedes Kind kann sie schon singen. Sie wirkt natürlich. Sie ist allgegenwärtig. Ohne sie ist westliche Musik nicht vorstellbar. Die Durtonleiter ist seit dem Barock dermaßen dominant, dass ihr anscheinend eine geheime Qualität innewohnt, die sie einzigartig macht. Tatsächlich musste aber auch sie sich erst langsam entwickeln. Bei genauerer Betrachtung ist man sogar erstaunt über die verschlungenen Pfade und Umwege, die die Entwicklung nahm. Wir wollen dem langen Weg zur Durtonleiter folgen und versuchen zu verstehen, warum der Weg so schwierig war.

Zunächst sind ein paar Begriffe zu klären. Die Höhe eines Tones ist durch seine Grundfrequenz gegeben. Zwei Töne kann man zueinander in Beziehung setzen, indem man das Verhältnis der beiden Grundfrequenzen bildet. Statt von Frequenzverhältnissen sprechen Musiker lieber von Intervallen. Einfache Frequenzverhältnisse wie 2:1 und 3:2 bekommen Namen, wie hier „Oktave“ und „Quinte“. Offensichtlich kommt es für die Identifizierung eines Intervalls nicht auf die echten Tonhöhen, sondern nur auf das mathematische Verhältnis der Frequenzen an. Beispielsweise bildet das Tonpaar 400 Hz und 600 Hz dasselbe Intervall wie das Tonpaar 200 Hz und 300 Hz. Das Frequenzverhältnis ist bei beiden Paaren 2:3, also handelt es sich beidesmal um eine Quinte – oder eigentlich, um die Quinte. Als Einführung in die physikalische Natur der Intervalle siehe zum Beispiel die Videoreihe Schubert01.

Zwischen einem Frequenzverhältnis und dessen Bruchzahl werden wir nicht streng unterscheiden; in Formeln sind oft Bruchzahlen praktischer. Traditionell benutzt man in der Musik für das Aneinanderfügen von Intervallen eine additive Sprechweise, wie etwa „Quinte plus Quarte ergibt eine Oktave“, tatsächlich multipliziert man aber die zugehörigen Frequenzverhältnisse, wie hier 3:2 · 4:3 = 2:1. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, werden wir zwischen Intervallen und dem Rechnen mit Frequenzverhältnissen unterscheiden, auch wenn ein Intervall vollständig durch sein Frequenzverhältnis definiert ist. Für ein Frequenzverhältnis p bezeichne p' das zugehörige Intervall.

Eine aufsteigende Folge von Intervallen nennt man gewöhnlich „Tonleiter“; wir sprechen lieber von Tonstufenleiter, um damit die Unabhängigkeit von absoluten Frequenzen zu betonen.

Intervalle

(Phantasie von Bing)

Schon in der Steinzeit hatte der Mensch offensichtlich Spaß daran, Töne zu produzieren. So hat man Flöten gefunden, die vor mehr als 35000 Jahren hergestellt wurden. Im Laufe der Zeit entdeckte der Mensch verschiedene Arten der Tonerzeugung, wie das Zupfen von Saiten oder das Schlagen von Körpern, und fand dabei natürlich auch heraus, wie sich verschiedene Tonhöhen erzeugen ließen. Neben dem Material des Instruments waren offensichtlich auch verschiedene Größen der Tonerzeuger von Bedeutung, wie die Position der Löcher einer Flöte, die Länge und Dicke von Saiten, und das Gewicht eines Körpers. Ein früher Forscher hat dann irgendwann entdeckt, dass der Ton einer Saite gut zum Ton der halb so langen Saite passte, indem man etwa die Saite in der Mitte niederdrückte.

Intervalle mit einfachen Frequenzverhältnissen werden wir ebenfalls als „einfach“ bezeichnen. Das einfachste Intervall hat das Frequenzverhältnis 2:1. Wir nennen es heute Oktave, und nach Verabredung können wir es als (2:1)' schreiben. Die Töne einer Oktave empfinden wir Menschen nicht als wirklich unterschiedlich, eher als helle und dunkle Kopien voneinander. Die Einfachheit des Frequenzverhältnisses fällt somit zusammen mit der Reinheit der Klangempfindung. Es war deshalb schon immer naheliegend, die Oktave als das reinste und elementarste Intervall zu betrachten. Wir wollen das Oktavverhältnis 2:1 mit α abkürzen und die Oktave mit dem großen Alpha Α.

Das einfachste Intervall nach der Oktave ist (3:2)' – das was wir heute (reine) Quinte nennen. Die Quinte wird allgemein als reinstes und elementarstes Intervall nach der Oktave akzeptiert, denn einerseits ist 3:2 das einfachste denkbare Zahlenverhältnis nach 2:1, andererseits wird die Reinheit des Intervalls auch vom Höreindruck bestätigt. Wir kürzen das Quintverhältnis 3:2 mit β ab und die Quinte mit dem großen Beta Β.

Das einfachste Intervall nach der Quinte ist (4:3)' – das was wir heute (reine) Quarte nennen. Sein Frequenzverhältnis 4:3 ist nur etwas komplizierter als 3:2. Wir kürzen das Quintverhältnis 4:3 mit γ ab und die Quinte mit dem großen Gamma Γ. Man sieht sofort, dass Quinte plus Quarte eine Oktave ergeben, da 3:2 · 4:3 = 2:1 ist. Also ist Β + Γ = Α und βγ = 2. Man sagt, Quinte und Quarte seien Komplementärintervalle. Bezieht man Richtungen mit ein und betrachtet einen Oktavabstand als Gleichklang, kann man auch sagen: Eine Quinte nach oben ist dasselbe wie eine Quarte nach unten. In diesem Sinn sind Quarte und Quinte Spiegelbilder voneinander.

Da also die Quarte nur etwas komplizierter als die Quinte ist, und außerdem Quarte und Quinte Spiegelbilder sind, wird auch die Quarte allgemein als elementar angesehen, auch wenn sie nicht ganz so rein wie die Quinte klingt.

Heutiger
Name

Kürzel
Intervall

Kürzel
Freq.verh.

Frequenz-
verhältnis

Oktave

Α (Alpha)

α

2:1

Quinte

Β (Beta)

β

3:2

Quarte

Γ = Α−Β

γ = 2/β

4:3

Die elementaren Intervalle

Quintenschichtung

Wie kam man aber von den Bausteinen Quinte und Quarte zu einer Tonstufenleiter, also einer Zerteilung der Oktave, die fein genug war, um interessante Melodien bilden zu können?

Ein alter Ansatz war ein formales Konstrukt, das man heute als Quintenschichtung kennt. Vermutlich wurde es schon im früh-bronzezeitlichen Mesopotamien entwickelt. Man setzt dabei schrittweise immer mehr Quinten aufeinander:

Β ,  Β+Β = 2Β ,  Β+Β+Β = 3Β , …

 

(additiv)

3 2 ,  3 2 · 3 2 ,  3 2 · 3 2 · 3 2 ,  …

 

(multiplikativ)

Diese Folge von Intervallen steigt schnell an, und schon 2Β ist größer als die Oktave (als Frequenzverhältnisse 9/4 > 8/4). Doch das Ziel ist ja, die Oktave selbst in kleine Teile zu unterteilen. Überschreitet also das neu konstruierte Intervall eine Oktave, geht man wieder eine Oktave nach unten, d.h. man ersetzt 2Β durch 2Β−Α (also 9/4 durch 9/8). Damit erreicht man, dass die Intervalle nie größer als eine Oktave werden. Dieses Vorgehen nennt sich Oktavreduktion.

Oktavreduktion von 2Β

Eine alternative Durchführung der Quintenschichtung mit Oktavreduktion ist, abwechselnd eine Quinte nach oben und dann wieder eine Quarte nach unten zu gehen. Hiermit hat man die Oktavreduktion in jeden zweiten Schritt gleich mit eingebaut. Mit diesem Verfahren wurden Saiteninstrumente tatsächlich auch gestimmt.

Je mehr Quinten man aufeinander geschichtet hat, um so mehr Oktaven muss man wieder nach unten gehen, um wieder in der Ausgangsoktave zu landen. Bei 4 Quinten muss man beispielsweise 2 Oktaven zurück, erhält also 4Β−2Α:

Quintenschichtung mit Oktavreduktion

Die so gewonnene Oktav-reduzierte Quintenschichtung kann man schreiben als:

0 , Β , 2Β−Α , 3Β−Α , 4Β−2Α, 5Β−2Α, ...

Man beachte, dass diese Folge von Intervallen nicht ansteigend sortiert ist, sondern größenmäßig auf und ab springt. Zwar ist die Quintenschichtung selbst eine ansteigende Folge, aber nach Oktavreduktion gilt das natürlich nicht mehr.

Mit den Abkürzungen Τ = 2Β−Α und τ = ββ/2 = 9:8 (für das zugehörige Frequenzverhältnis) kann man die Formeln etwas vereinfachen, z.Β. durch Umformungen wie 3Β−Α = Β+2Β−Α = Β+Τ. Damit schreibt sich die Oktav-reduzierte Folge der Quintenschichtung etwas einfacher als

0 , Β , Τ , Β+Τ , 2Τ , Β+2Τ , 3Τ , …

 

(additiv)

1 , β , τ , βτ , ττ , βττ , τττ , …

 

(multiplikativ)

Da der Mensch die Oktave fast als Gleichklang wahrnimmt, wird die Oktavreduktion in der Regel nicht explizit erwähnt, und damit ist das Verfahren zur Erzeugung von Tonstufen das einfache Prinzip der Quintenschichtung.

Aber ist das nun eine musikalisch sinnvolle Konstruktion einer Tonstufenleiter? Zwar ist die Quinte sehr einfach, doch liefert die Quintenschichtung mit Oktavreduktion alles andere als besonders einfache mathematische Verhältnisse, beispielsweise ist ττ = 81:64. Die formale Schönheit der Quintenschichtung täuscht doch eigentlich über die unschönen Intervalle in der resultierenden Tonstufenleiter hinweg.

Die Quintenschichtung hat aber noch eine faszinierende Eigenschaft: Das Frequenzverhältnis von 6Τ, der 13. Tonstufe der Folge, ist etwa 2,03. Also entspricht das Intervall 6Τ ungefähr der Oktave Α, was ein glücklicher Zufall und keineswegs ein Naturgesetz ist. Es ergeben sich damit 12 Tonstufen bzw. Intervalle, die kleiner als die Oktave sind; der 13. Ton ist praktisch die Oktave selbst. Im Prinzip könnte man die Folge noch weiterführen, aber man ist so nah an der Oktave und hat mit den zwölf Tonstufen auch schon eine so feine Aufteilung der Oktave, dass man hier die Folge gern abbricht. Tut man dies, nennt man das Ergebnis heute den Quintenzirkel.

Spiel der 11-saitigen Lyra - Detail auf der Standarte von Ur (Mesopotamien), ca. 2500 v.Chr. (Quelle StandarteUr01)

Ganztöne und Diatonik

Der Quintenzirkel mit Oktavreduktion liefert eine Zerlegung der Oktave in 12 Intervalle, was nicht wenig ist. Es ist nicht davon auszugehen, dass dies in vorantiker Zeit jemals theoretisch oder praktisch ausgeführt wurde. Eine Tonleiter war unter anderem für das Stimmen von Saiteninstrumenten interessant, wofür 12 Tonstufen sehr viel gewesen wären.

Aber auch mit der Schichtung von weniger Quinten kann man zu einer recht feinen Zerlegung der Oktave kommen. Wir präsentieren zunächst die Lösung, und begründen dann, warum diese sinnvoll ist:

Man nehme nur 6 Quinten. Aus der reduzierten Quintenschichtung 0 , Β , Τ , Β+Τ , 2Τ , Β+2Τ , 3Τ erhält man durch Sortierung eine 7-stufige Tonstufenleiter:

Quintenschichtung mit Oktavreduktion der Länge 7

Mit ergänzter, abschließender Oktave lautet sie also:

0 , Τ , 2Τ , 3Τ ,   Β , Β+Τ , Β+2Τ ,   Α

Die Tonschritte, d.h. die Differenzen der Tonstufen, sind:

  T , Τ , Τ , Β−3Τ , T , Τ , Α−(Β+2Τ)

Die beiden Schritte ungleich Τ sind gleich groß, was man sofort sieht (Β−3Τ = Β−Τ−2Τ = Γ−2Τ = Α−Β−2Τ). Ihre Größe ist ungefähr die Hälfte von Τ, wobei der rechnerische Beweis hier erspart werden soll.

Auf jeden Fall sind die Tonschritte bei obiger Tonstufenleiter nie größer als Τ. Der eins kürzeren Oktav-reduzierten Quintenschichtung fehlt dagegen das von 6Β stammende 3Τ, welches zwischen 2Τ und Β liegt. Damit hätte diese Tonstufenleiter mit einem Tonschritt von ungefähr 1,5Τ hier eine deutliche Lücke im Vergleich zu den anderen Tonschritten.

Mit Τ als Höchstabstand kann man aber zufrieden sein. Die zugehörige Tonstufenleiter ist ein guter Kompromiss zwischen dem Wunsch nach möglichst wenig Stufen (7 Stufen, wenn man die Oktave nicht mitzählt) und dem Wunsch nach möglichst geringem Abstand der Töne (Abstand Τ oder weniger). Das als 2Β−Α eingeführte Intervall Τ wird so zu einer Grundeinheit, die eine ausreichend dichte Lage von Tonstufen anzeigt. Sie wurde von den Griechen „Tonos“ genannt, später lateinisch „Tonus“, heute (pythagöräischer) Ganztonschritt oder Ganztonabstand. Mit unseren bisherigen Abkürzungen ist Τ = 2Β−Α = Β−Γ.

Da die beiden kleinen Schritte ungefähr halb so groß wie der Ganztonschritt sind, nennt man sie einen Halbtonschritt – um präzise zu sein, einen pythagoräischen Halbtonschritt. Wir kürzen den pythagoräischen Halbtonschritt mit dem großen Eta Η ab und dessen Verhältnis 2⁸:3⁵ mit dem kleinen Eta η (nach griechisch „ημι“ = „(h)emi“ = halb). In Kürzelschreibweise gilt also Τ ≈ 2Η, bzw. τ ≈ ηη.

Die Tonschritte obiger 7-stufiger Folge mit Höchstabstand Τ plus Oktave lassen sich damit schreiben als

Τ , Τ , Τ , Η , Τ , Τ , Η .

Die Tonstufenleiter besteht offenbar aus 5 Ganztonschritten und 2 Halbtonschritten. Verlängert man über die Oktave hinaus, erhält man eine endlose Leiter mit folgendem Muster von Tonschritten:

… Τ Τ Τ Η Τ Τ Η Τ Τ Τ Η Τ Τ Η Τ Τ Τ Η Τ Τ Η …

Zwischen zwei Halbtonschritten Η befinden sich abwechselnd 2 oder 3 Ganztonschritte; 7 Schritte zusammen ergeben immer die Oktave. Dieses Muster ohne ausgezeichneten Anfang nennen wir das pythagoräische diatonische Tonschrittschema. Das diatonische Tonschrittschema ist genau das, was auf einer heutigen Klaviatur durch die weißen Tasten repräsentiert ist. Auch wenn es mit dem Namen Pythagoras verknüpft ist, sind seine Ursprünge vermutlich bedeutend älter. Jeder 7-stufige Abschnitt dieses Musters heißt heute eine pythagoräische diatonische Tonstufenleiter. Durch Wahl eines Startpunktes aus den 7 Möglichkeiten erhält man aus dem Tonschrittschema wieder eine konkrete diatonische Tonstufenleiter. Bis ins Mittelalter hinein wurde allerdings kein besonderer Startpunkt bzw. Ruhepunkt bevorzugt, was sich in der Vielzahl der antiken „Oktavgattungen“ und mittelalterlichen Kirchentonarten (Modi) zeigte.

Oktave, Quinte und Quarte wurden in der Kulturgeschichte des Menschen sicher früh entdeckt. Wie und wann das diatonische Tonschrittschema wirklich gefunden wurde, liegt im Dunkeln. Die Mehrheit der Forscher ist der Auffassung, dass es bereits im alten Mesopotamien um 1800 v. Chr. bekannt war, und zum Stimmen von Saiteninstrumenten benutzt wurde (Kilmer02, S.94, Rahn01, Abstract). Im klassischen Griechenland war es jedenfalls bekannt, da es von Philolaos (geb. 470 v. Chr.) und Euklid (geb. evt. 360 v. Chr.) beschrieben wurde (Philolaos, Fragment und Euklid - Die Teilung des Kanons).

Wann der Mensch erstmals komplexere Intervalle erkannte oder untersuchte, ist unbekannt. Spätestens um 500 v. Chr. beschäftigten sich Menschen des griechischen Kulturkreises intensiv mit Zahlenverhältnissen, und bauten wie die Pythagoräer sogar ihr Weltmodell darauf auf. In diesem Umfeld wurden natürlich auch einfache Intervalle auf ihre Mathematik und ihren Klang hin untersucht. Direkten Zugang zu Frequenzverhältnissen gab es damals nicht, und so wurden messbare Eigenschaften ins Verhältnis gesetzt, die offenbar in direktem Zusammenhang mit den Tonhöhen standen, wie etwa die Länge von Saiten.

Mehrstimmigkeit und Reinheit

Für die weitere Entwicklung zur Durtonstufenleiter ist das Vorhandensein von Mehrstimmigkeit von entscheidender Bedeutung.

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass bei Benutzung einer diatonischen Tonstufenleiter auf mehrsaitigen Instrumenten öfters mehrere Saiten gleichzeitig erklangen, und damit auch Intervalle außer Quinte und Quarte. Die Frage ist vielmehr, wie gezielt solche Zweistimmigkeit eingesetzt wurde. In der ersten bekannten schriftlichen Fixierung eines Musikstückes (Hurritische Hymnen), die einer Kultur auf dem Gebiet des heutigen Syrien um das Jahr 1400 v.Chr. zugeordnet wird, sind ziemlich sicher auch Folgen von Intervallen (genauer: Saitenpaaren) notiert. Eine vorgeschlagene Interpretation ist, dass es sich hier tatsächlich um die Notation einer zweistimmigen, harmonischen Begleitung handelt (Kilmer01, Kilmer02, Hagel01). Doch gibt es auch ganz andere Interpretationen.

Geht man davon aus, dass Instrumente diatonisch gestimmt wurden, hat man sicher bald bemerkt, dass Zweischrittabstände, also das, was wir heute als Terzen bezeichnen, angenehm und interessant klangen. Nicht so farblos und hohl wie Quinte und Quarte, aber auch nicht so dissonant wie der Tonus. Dies galt für die große Terz Τ+Τ, aber auch für die kleine Terz Τ+Η.

Mathematisch lässt sich der Wohlklang leicht begründen, denn die pythagoräische große Terz 2Τ, der Ditonus des diatonischen Tonschrittschemas, hat fast das gleiche Frequenzverhältnis wie die reine große Terz (5:4)':

ττ = (9:8) · (9:8) = 81:64 ≈ 80:64 = 5:4

Und das, was in Wahrheit wirklich gut klingt, ist eben die reine große Terz mit ihrem einfachen Frequenzverhältnis. Wir kürzen die reine große Terz mit dem großen Delta Δ ab.

Ditonus 2Τ
Reine große Terz Δ

Es ist unwahrscheinlich, dass den praktischen Musikern dieser Zusammenhang klar war. Ihnen genügte der Wohlklang dieses Intervalls. Vermutlich wurden aber beim Stimmen des Instruments kleine Tonhöhenänderungen vorgenommen, sodass woimmer möglich die reine große Terz statt des Ditonus erklang.

Musik in der Antike

Der alte Ansatz für die Gewinnung einer Tonstufenleiter, die Schichtung von Quinten mit Oktavreduktion bzw. die Schichtung von Ganztonschritten, war ein einfacher, aber unmusikalischer Ansatz. Quinte und Quarte dominierten, alle anderen Intervalle innerhalb der Tonstufenleiter waren unwichtig.

Griechische Muse stimmt eine Kithara, ca. 460 v.Chr. (Quelle Kithara01)

Die Griechen übernahmen diesen Ansatz und erweiterten das diatonische Schema über die Oktave hinaus (Franklin01). Später entwickelte sich dann ein neuer Trend für die Gewinnung einer Tonstufenleiter. Er beruhte darauf, die Quarte flexibler in drei kleine Schritte zu zerlegen und die resultierenden „Tetrachorde“ zu kombinieren. Mit zwei Tetrachorden und einem Ganztonschritt erhielt man dann ebenfalls eine 7-stufige Tonstufenleiter der Oktave.

Zwei Tetrachorde und ein Tonos aneinandergefügt

Die kleinen Schritte eines Tetrachords sollten dabei musikalisch gewählt werden, und tatsächlich wurden viele Tetrachorde vorgeschlagen und ausprobiert. Mit dem „diatonischen Tetrachord“ (Η, Τ, Τ) konnten auch die diatonischen Tonstufenleitern wiedergewonnen werden. Andere Tetrachord-Geschlechter waren weniger ausgeglichen und besaßen teilweise sehr kleine Tonschritte kombiniert mit einem sehr großen.

Die drei Tetrachord-Geschlechter

Claudius Ptolemäus betrachtete in seinem Werk „Harmonik“ von ca. 150 n. Chr. verschiedene Stimmungen der Geschlechter, auch eine Stimmung des diatonischen Tetrachords, bei der die beiden großen Töne zusammen eine reine große Terz bildeten („Diatonon syntonon“). Diese half zwar Jahrhunderte später zur Begründung der Dur-Tonstufenleiter, wurde aber von Ptolemäus selbst nicht weiter hervorgehoben und hatte zum damaligen Zeitpunkt auch keinen Einfluss. Tatsächlich trug der mikrotonale Tetrachord-Ansatz der Griechen wenig zur Entwicklung der Durtonleiter bei, eher zur östlich-arabischen Musikkultur. Immerhin erkannten und formulierten die Griechen aber die mathematische Ähnlichkeit von Ditonus mit reiner großer Terz.

Hinsichtlich möglicher Mehrstimmigkeit muss man zwischen Gesang und Begleitung unterscheiden. Auch wenn instrumentales, zweistimmiges Begleiten für das frühe Mespotamien und das antike Griechenland denkbar sind, gibt es keine Hinweise auf zweistimmigen Gesang (sieht man vom Singen im Oktavabstand ab).

Gesangliche Mehrstimmigkeit

Bei den Theoretikern war das pythagoräische diatonische Tonschrittschema beliebt, schließlich war es auf elegante mathematische Weise konstruiert und enthielt viele Quinten und Quarten. Auch für die Praktiker gab es keinen Grund, diese Tonstufenleitern abzulehnen, und die etwas schiefen Terzen wurden durch leichtes Verstimmen ausgeglichen. Die diatonische Tonstufenleiter war so seit der Antike der de-facto-Standard in der abendländischen Musik.

Mit dem sich verbreitenden Christentum zeichnete sich im Abendland eine Spaltung der Musik in weltliche und kirchliche Musik ab. Während die kirchliche Musik dem Gottesdienst und der inneren Einkehr diente, sollte die weltliche Musik unterhalten.

Durch häufiges Zusammensingen in der weltlichen Musik entwickelte sich wohl von selbst eine gewisse Mehrstimmigkeit. Ohne die Last irgendwelcher theoretischer Überlegungen sollte dieser gemeinsame Gesang einfach gut klingen. Der Ditonus wurde als angenehmes Intervall erkannt, zumindest wenn man ihn als reine große Terz intonierte. Es entwickelte sich beim Gesang die naheliegende Zweistimmigkeit, bei der eine Hauptstimme durch eine annähernd parallel geführte Zweitstimme begleitet wurde, mit Schwerpunkt auf der Benutzung von Terzen und deren Komplementärintervallen. Diese frühe weltliche Zweistimmigkeit ist für das mittelalterliche England belegt und mit dem Begriff „Gymel“ (BRKlassik01) verknüpft. Sie reicht aber vermutlich weiter zurück bis in das Frühmittelalter in den Gebieten von Wales und Skandinavien, wie Aussagen von Gerald von Wales nahelegen (Miller01, Stackexchange01, Geraldus01, Riemann01).

Wohl schon im Frühmittelalter waren England und Skandinavien Vorreiter der Popmusik (Phantasie von Bing, Saiteninstrument rechts sollte eher eine Germanische Leier sein; Existenz einer Laute ist ungewiss, vielleicht war die Pandura bekannt)

In der kirchlichen Musik sah die Sache anders aus. Zum einen durfte Musik nicht unterhalten, zum anderen musste sie mathematisch rein sein. Die Entwicklung mündete in den einstimmigen „Gregorianischen Gesang“ mit verschiedenen Start- und Ruhepunkten („Modi“) im pythagoräischen diatonischen Tonschrittschema. Zwar verschlossen sich die kirchlichen Musiker nicht ganz der Zweistimmigkeit, doch wurde sie schnell auf Quarten und Quinten beschränkt. Wie oben schon angedeutet, gab es dafür zwei Gründe, einen emotionalen und einen intellektuellen: Den streng gläubigen Mönchen klang die große Terz einfach zu interessant und farbig. Sie mussten fürchten, von ihrem eigentlichen Streben nach innerer Einkehr abgelenkt zu werden. Andererseits lehnten die mathematisch gebildeten Mönche die pythagoräische Terz 2Τ mit ihrem Verhältnis 81:64 als formal unrein ab. Die große Terz wurde zunächst nur für Übergangsschritte akzeptiert, etwa um bei der Parallelbewegung den noch viel schlimmeren „Tritonus“ 3Τ, den „diabolus in musica“ (Verhältnis 729:512) zu vermeiden. Diese einfache Mehrstimmigkeit, die im Wesentlichen auf der Parallelführung mit Quarten oder Quinten basierte, wurde als erste Form des „Organums“ bekannt.

Der praktische Gebrauch solcher einfacher Mehrstimmigkeit im klösterlichen Umfeld ist bereits für das Jahr 900 belegt. 2013 wurde die bis dato früheste Notation eines zweistimmigen Gesanges entdeckt, angefertigt in einem Kloster bei Düsseldorf (UniCam01).

Über die Jahrhunderte hinweg gewöhnten sich die Mönche aber wohl an die Terzen. Die Ähnlichkeit von 2Τ und der reinen großen Terz war eigentlich schon aus der Antike bekannt, und man begann, die beiden Intervalle immer mehr miteinander zu identifizieren. Die Intonation von 2Τ als reine große Terz hatte sich um 1300 allgemein durchgesetzt, wie etwa der englische Benediktinermönch Walter Odington um diese Zeit notierte.

Mit der Rechtfertigung, dass es sich ja um die reine große Terz (5:4)' und nicht um (81:64)' handle, konnten die Mönche die große Terz nun ohne schlechtes Gewissen in ihrer Zweistimmigkeit einsetzen. Die Identifikation von 2Τ mit der reinen großen Terz hatte auch Auswirkung auf die andere Terz: Fast zwangsläufig wurde Τ+Η als reine kleine Terz (6:5)' behandelt.

So benutzten zwar irgendwann sowohl weltliche wie auch kirchliche Musiker Terzen in ihrer Mehrstimmigkeit, aber die pedantischen Theoretiker haderten noch lange damit wegen der scheinbaren Unvereinbarkeit von Theorie (pythagoräische große Terz 2Τ) und Praxis (reine große Terz). Doch genau solch eine Vereinigung wurde immer mehr gefordert, denn die Theorie sollte der Praxis nicht mehr hinterherhinken. Das Ideal der Quintenschichtung als Prinzip zur Konstruktion des diatonischen Tonschrittschemas hatte jedenfalls Risse bekommen.

Spätmittelalter ‒ Dreiklänge

Von der Zweistimmigkeit mit Terzen war es nun nicht mehr weit zur Dreistimmigkeit. Die naheliegenden Dreiklänge waren die beiden Zerlegungen der Quinte in reine große Terz 5:4 und reine kleine Terz 6:5, die wir heute als Dur-Dreiklang und Moll-Dreiklang kennen. Deren Unterschied ist, dass bei Dur die große Terz auf dem Grundton sitzt, und bei Moll die kleine:

Verhältnis zum Grundton

1:1

5:4

3:2

Tonschritt

 

5:4

6:5

 

Reiner Dur-Dreiklang in Grundform

Verhältnis zum Grundton

1:1

6:5

3:2

Tonschritt

 

6:5

5:4

 

Reiner Moll-Dreiklang in Grundform

Die Dreier-Frequenzverhältnisse der reinen Dreiklänge in Grundform sind damit

bei Dur:  4 : 5 : 6  ,  bei Moll:  10 : 12 : 15  .

Der Dur-Akkord klingt vertrauter, normaler und netter. Warum das so ist, und ob das reine Gewohnheit ist, darüber gibt es viele Theorien. Ein gewichtiges Argument für die Bedeutung des Dur-Akkordes ist, dass er in der Obertonreihe jedes natürlich vorkommenden Tones auf einer niederen Oktave in Grundform mitklingt (nämlich auf der doppelten Oktave). Das bedeutet, eigentlich hören wir immer automatisch Dur-Akkorde mit, auch wenn sie gar nicht absichtlich gespielt werden.

Vielfaches der
Grundfrequenz

1

2

3

4

5

6

Intervall zum
Grundton

 

Oktave

 

Doppelte
Oktave

 

 

 

 

Reiner Dur-Dreiklang
in Grundform

 

 

Reiner Dur-Dreiklang
in Umkehrung

Die ersten 6 Töne der Obertonreihe

Obertonreihe eines einzelnen Trompetentons auf Intervallskala (logarithmische Frequenzskala)

Der Dur-Dreiklang mit seinem Frequenzverhältnis 4:5:6 ist auch mathematisch einfacher als der Moll-Dreiklang mit seinem Verhältnis 10:12:15. Tatsächlich ist der Dur-Dreiklang sogar der einfachste denkbare Dreiklang, was die Zahlenverhältnisse angeht: 1:2:3 und 2:3:4 sind im Wesentlichen Kombinationen aus Quinte und Oktave, und 3:4:5 ist praktisch schon der Dur-Dreiklang, nur nicht in Grundform, sondern als Umkehrung (unterster Ton von 3:4:5 eine Oktave nach oben ergibt 4:5:6, d.h. 3:4:5 ≡ 4:5:6).

Dur- oder Moll-Dreiklang tauchten fast auf jeder Stufe des diatonischen Tonschrittschemas auf, wenn man wieder einmal 2Τ mit der großen Terz Δ identifizierte, und Τ+Η = Β−2Τ mit der kleinen.

Renaissance ‒ Tonalität

Mit den Dreiklängen hielt das neue Konzept der Harmonik Einzug in die Musik. Es begann eine Partnerschaft zwischen Melodiestimme und einer rhythmisch freieren Begleitung mit Akkorden. Mehr noch: Die Begleitung entwickelte ein Eigenleben. Die Harmonien nahmen nicht nur Bezug auf die Melodiestimme, sondern standen auch gegenseitig in Beziehung.

Schon bei Melodien und bei Zweiklang-Folgen ergaben sich Spannungsbögen und Ruhepunkte. Gewisse Tonstufen strebten in Richtung Ruhepunkte. Bei der Zweiklangfolge [cg], [dg] stellt sich beispielsweise eine Spannung ein, die wieder nach [cg] aufgelöst werden will. Oder auch bei [cg], [hf], deren Spannung nach [ce] aufgelöst werden will. Bei Dreiklängen sind diese Spannungstendenzen noch ausgeprägter. So fordert die Dreiklangfolge [ceg], [hdf] die Auflösung zurück nach [ceg].

Es entwickelten sich ‒ zunächst in Dur ‒ die Funktionen eines Grundakkords (Tonika) und eines stark zur Tonika strebenden Partner-Akkords auf der Quinte (Dominante bzw. Dominant-Septakkord), außerdem noch die eines neutraleren zweiten Partner-Akkords auf der Quarte (Subdominante). Diese Funktionen und Beziehungen von Akkorden, heute Tonalität bzw. tonale Harmonik genannt, wurden ebenfalls nie theoretisch, sondern auch nur durch das praktische Musizieren mit begleitenden Dreiklängen entdeckt.

Man bemerkte, dass die zugehörige diatonische Tonstufenleiter nur bei einem einzigen Startpunkt die Dur-Dreiklänge auf Grundton, Quarte und Quinte enthielt, also Tonika, Subdominante und Dominante. In der vor-tonalen Zeit waren noch alle Startpunkte gleichberechtigt. Aber Tonalität und die Bedeutung des Dur-Dreiklangs führten jetzt zu einem bevorzugten Startpunkt („Grundton“) im zyklischen Muster des diatonischen Tonschrittschemas.

Die diatonische Tonstufenleiter mit diesem Startpunkt stellt sich so dar:

Tonstufe

Nummer

1

2

3

4

5

6

7

(8)

Intervall

0

Τ

2Τ

Β−Τ

Β

Β+Τ

Β+2Τ

(Α)

Schritt

Intervall

 

Τ

Τ

Η

Τ

Τ

Τ

Η

 

Pythagoräische diatonische Tonstufenleiter mit besonderen tonalen Eigenschaften

Aufgrund ihrer besonderen tonalen Eigenschaften wurde diese diatonische Tonstufenleiter immer populärer. Wir nennen sie heute die Dur-Tonstufenleiter.

Man beachte aber, dass auch sie als pythagoräische Tonstufenleiter keine reinen Terzen enthielt. Schließlich war sie nur durch die Wahl eines speziellen Grundtons gegenüber den anderen diatonischen Tonstufenleitern ausgezeichnet.

Auch sollte klar sein, dass die Entstehung der Dur-Tonstufenleiter bisher im Wesentlichen ein Glückstreffer war und keineswegs theoretisch hergeleitet. Es war schließlich reiner Zufall, dass in der Quintenschichtung der doppelte Ganztonschritt 2Τ fast die reine Terz ergab. Und doch war dies Anlass für die Entwicklung der tonalen Harmonik und damit für die Dur-Tonstufenleiter.

Renaissance – Reine Dur-Tonstufenleiter

Zu lösen war immer noch das Problem, Terzen ganz offiziell und fundiert in einer Tonstufenleiter unterzubringen. Nach einigen Vorarbeiten anderer präsentierte Gioseffo Zarlino 1558 eine Dur-Tonstufenleiter, die nicht mehr auf der Schichtung von 6 Quinten basierte (also nicht-pythagoräisch war), sondern auf der Schichtung von 3 reinen Dur-Dreiklängen: Vereinigt werden die reinen Dur-Dreiklänge auf dem Grundton, auf der Quinte und auf der Quarte, also auf Tonika, Dominante und Subdominante. Offensichtlich war diese Konstruktion stark von der neu entdeckten Tonalität geprägt.

Die Wirkungsstätte von Zarlino: Der Markusdom in Venedig (Quelle Markusdom01)

Durch Vereinigung aller Töne, Eliminierung der doppelten, und Sortierung der Größe nach, erhält man eine Tonstufenleiter, die sich mit den Bezeichnungen Δ für die reine große Terz und Γ für die Quarte so darstellt:

Tonstufe

Nummer

1

2

3

4

5

6

7

(8)

Intervall

0

Τ

Δ

Γ

Β

Γ+Δ

Β+Δ

(Α)

Schritt

Intervall

 

Τ

Τ

Τ

 

Tonstufenleiter durch Vereinigung von Tonika, Subdominante und Dominante

Das Frequenzverhältnis eines Tons ergibt sich als Produkt aus Frequenzverhältnis des Dreiklang-Grundtons zum Grundton und Frequenzverhältnis des Tons zum Dreiklang-Grundton:

Dreiklang

Frequenzverh.
des Dreiklang-
Grundton

Frequenzverh.
innerhalb des
Dur-Dreiklangs

Resultierendes
Frequenzverh.
des Tons

Tonika

1:1

1:1

1:1

5:4

5:4

3:2

3:2

Dominante

3:2

1:1

3:2

5:4

15:8

3:2

9:4 ≡ 9:8

Subdominante

4:3

1:1

4:3

5:4

5:3

3:2

2:1 ≡ 1:1

Frequenzverhältnisse reiner Dur-Dreiklänge auf Tonika, Dominante, Subdominante

Man nennt die neu konstruierte Tonstufenleiter heute die reine Dur-Tonstufenleiter. Betrachtet man die Zahlenwerte der Frequenzverhältnisse, sieht man, dass sie denen der pythagoräischen Dur-Tonstufenleiter ähneln:

Reine
Dur-Tonstufenleiter

Konstruktion

1:1

9:8

5:4

4:3

3:2

5:3

15:8

Zahlenwert

1,000

1,125

1,250

1,333

1,500

1,667

1,875

Pythagoräische
Dur-Tonstufenleiter

Zahlenwert

1,000

1,125

1,266

1,333

1,500

1,688

1,898

Konstruktion

1

τ

ττ

β/τ

β

βτ

βττ

Frequenzverhältnisse der reinen Dur-Tonstufenleiter im Vergleich zu denen der pythagoräischen

Ein Gefühl für die Abweichung bekommt man am besten, wenn man die Tonstufenleitern graphisch auf der Intervallskala vergleicht:

Stufen der pythagoräischen (oben) und reinen Dur-Tonstufenleiter (unten) auf der Intervallskala

Die reine Dur-Tonstufenleiter hat ebenfalls 5 Ganztonschritte und 2 Halbtonschritte, allerdings gibt es zwei Größen von Ganztonschritten (τ und τ⁻), und die Halbtonschritte sind etwas größer (η⁺):

Kürzel

τ

τ⁻

Verhältnis

9:8

10:9

Zahlenwert

1,125

1,111

Alter und neuer Ganztonschritt

Kürzel

η

η⁺

Verhältnis

256:243

16:15

Zahlenwert

1,053

1,067

Alter und neuer Halbtonschritt

Zusammengefasst hat die reine Dur-Tonstufenleiter folgende Stufen und Schritte:

Tonstufe

Nummer

1

2

3

4

5

6

7

(8)

Verhältnis zur ersten

1:1

9:8

5:4

4:3

3:2

5:3

15:8

(2:1)

Schritt

Kürzel Verhältnis

 

τ

τ⁻

η⁺

τ

τ⁻

τ

η⁺

 

Verhältnis

9:8

10:9

16:15

9:8

10:9

9:8

16:15

Reine Dur-Tonstufenleiter und deren Tonschritte (Frequenzverhältnisse)

Wie nicht anders zu erwarten, enthält die reine Dur-Tonstufenleiter aufgrund ihrer Konstruktion viele reine Terzen, Quarten und Quinten:

Schrittzahl

Intervall

Anzahl reiner
Intervalle

2 Schritte

Terz (groß oder klein)

6

3 Schritte

Quarte

5

4 Schritte

Quinte

5

Reinheit der neuen Dur-Tonstufenleiter

Offensichtlich trägt die reine Dur-Tonstufenleiter ihren Namen zu Recht. Man kann nun pythagoräische und reine Dur-Tonstufenleiter als verschiedene Stimmungen einer idealisierten Dur-Tonstufenleiter auffassen, genannt pythagoräische Stimmung und reine Stimmung der Dur-Tonstufenleiter.

Abgesehen davon, dass die Vereinigung der Dur-Dreiklänge auf Tonika, Dominante und Subdominante viele reine Intervalle liefert, bildet sie auch eine eigenständige Begründung der Dur-Tonstufenleiter ohne jeglichen Bezug zur Quintenschichtung und deren Glückstreffer:

Die Dur-Tonstufenleiter ist die Tonstufenleiter, die entsteht, wenn man

  • Grundton, Quinte und Quarte als Basis-Tonstufen nimmt,
  • und auf jede dieser drei Basis-Tonstufen einen Dur-Dreiklang setzt.

Diese Konstruktion kann als die gesuchte direkte Definition der Dur-Tonstufenleiter angesehen werden, die nur die Wichtigkeit des Dur-Dreiklangs und der Stufen Tonika, Dominante und Subdominante annimmt. Man muss sich allerdings fragen, ob bzw. wann die Dur-Tonstufenleiter ohne den holprigen Umweg über die Quintenschichtung überhaupt entstanden wäre. Oder anders gesagt: Die saubere Definition der Dur-Tonstufenleiter hätte man wohl nie gefunden, wenn nicht davor bereits eine unsaubere Konstruktion der Dur-Tonstufenleiter existiert hätte.

Oder doch schon früher?

1.) Bisher haben wir uns auf den westlichen Kulturkreis konzentriert. Aber auch die klassische indische Musik basiert auf der Dur-Tonstufenleiter, den 7 „shuddha Svaras“ (den 7 „reinen Tönen“), die ebenfalls zu 12 Svaras erweitert werden. Erstaunlicherweise hat hier die Durtonleiter ganz klar eine Sonderstellung im Vergleich zu den anderen diatonischen Tonleitern. Es könnte sein, dass die Durtonleiter mit den indoarischen Migrationen von Westen nach Indien kam, manche Autoren nennen auch Mesopotamien als Quelle (Massey01). Aber gab es dann schon in Mesopotamien oder gar in der Kurgan-Kultur / Jamnaja-Kultur die Durtonleiter? Dies würde die Existenz der Durtonleiter tausende Jahre vorverlegen. Oder war dies eine Parallelentwicklung in Nordindien?

2.) Es gibt Hinweise, dass die frühe englische Mehrstimmigkeit außer Terzen auch schon Tonalität und Bevorzugung der Durtonleiter vorwegnahm, Jahrhunderte bevor die gleiche Entwicklung in der gesamteuropäischen Musik stattfand (Sanders01).

3.) Der erste Festlandeuropäer, der die Dur-Tonstufenleiter gesichert anwandte, war der Benediktinermönch und Musiktheoretiker Guido von Arezzo um das Jahr 1020. Er nutzte die ersten sechs Tonstufen der pythagoräischen Dur-Tonstufenleiter, also den Hexachord 0, Τ, 2Τ, Β−Τ, Β, Β+Τ, als Grundlage seiner später weit verbreiteten Musiklehre. Auch er scheint damit seiner Zeit voraus zu sein. Für die Diskussion eines möglichen Grundes siehe Hagel01.

Vielleicht ist also die Durtonleiter ein tausende Jahre alter Hut, und war schon immer irgendwie da, nur fehlen uns eben Quellen, die die Durtonleiter explizit beschreiben.

Ausblick

Wer nun denkt, dass die reine Dur-Tonstufenleiter die Lösung aller Tonstufenleiter-Probleme war, der irrt gewaltig. Zwar hatte man jetzt eine befriedigende Herleitung der Dur-Tonstufenleiter, aber das Fehlen einer perfekten Stimmung wurde überdeutlich. Es wurde klar, dass man eigentlich eine Tonstufenleiter bzw. Stimmung wollte, die auf allen Stufen und allen Abständen reine Intervalle liefert. Es wurde aber auch klar, dass dies nicht möglich ist. Beispielsweise lieferte die reine Stimmung auf der zweiten Stufe eine unsaubere Quinte mit dem Verhältnis 40/27 ≈ 1,481. Viele Stimmungen wurden ausprobiert auf der Suche nach dem optimalen Kompromiss. Erst nach und nach begann die musikalische Welt, sich mit dem entdeckten Dilemma zu arrangieren und mit mehreren coexistenten Stimmungen zu arbeiten, wohlwissend, dass es keine optimale Lösung gab.

Resümee

Rückblickend kann man sagen, dass zur Entwicklung der Dur-Tonstufenleiter drei Bestandteile wesentlich beigetragen haben:

1.) Antike - Diatonik: Quintenschichtung liefert das Konzept des Ganztonschritts und die erste Konstruktion des diatonischen Tonschrittschemas, welche viele Quinten und Quarten enthält.

2.) Mittelalter - Harmonik/Reinheit: Terzen werden in leicht verstimmter Form im diatonischen Tonschrittschema entdeckt und erweisen sich als geeignet für den mehrstimmigen Gesang. Durch gezielte leichte Verstimmung der diatonischen Tonstufenleiter können viele Terzen untergebracht werden. Man hat damit Tonstufenleitern, die einerseits klein sind, und andererseits sehr viele reine Quinten, Quarten, große Terzen und kleine Terzen enthalten.

3.) Mittelalter - Tonalität/Grundton: Mit Terzen und Quinten lassen sich Dreiklänge bilden. Der Mensch präferiert den Dur-Dreiklang gegenüber dem Moll-Dreiklang. Es entwickeln sich harmonische Funktionen wie Dominante und Subdominante und damit eine Präferenz für zusätzliche Dur-Dreiklänge auf der Quinte und auf der Quarte. Nur bei genau einer Wahl des Grundtons für eine diatonische Tonleiter sind Dur-Dreiklänge auf Prime, Quarte und Quinte enthalten, nämlich bei der Dur-Tonstufenleiter.

Anhang

Übersicht über benutzte Intervalle, deren Symbole und Beziehungen.

Heutiger Name

Kürzel
Intervall

Kürzel
Freq.verh.

Frequenz-
verhältnis

reine Oktave

Α (Alpha)

α

2:1

reine Quinte

Β (Beta)

β

3:2

reine Quarte

Γ (Gamma)

γ

4:3

reine große Terz

Δ (Delta)

5:4

reine kleine Terz

Β − Δ

6:5

pyth. Ganztonschritt

Τ (Tau)

τ

9:8 = 3²:2³

pyth. Halbtonschritt

Η (Eta)

η

2⁸:3⁵

Benutzte Intervalle

Intervalle

Frequenzverh.

Β+Γ = Α

β γ = 2

Γ+Τ = Β

γ τ = β

2Τ+Η = Γ

τ²η = γ

Γ = Α−Β = Β−Τ

γ = 2 ∕ β = β ∕ τ

Τ = 2Β−Α = Β−Γ

τ = β² ∕ 2 = β ∕ γ

Η = Β−3Τ = Γ−2Τ

η = β ∕ τ³ = γ ∕ τ²

6Τ ≈ Α

τ⁶ ≈ 2

2Τ ≈ Δ

τ² ≈ 5⁄4

Τ+Η ≈ Β−Δ

τη ≈ 6⁄5

2Η ≈ Τ

η² ≈ 9⁄8

Beziehungen

β12

≈

27

≈

53

≈

=

=

130

≈

128

≈

125

Die göttlichen numerischen Zufälle der Musik

Quellen zu Spezialthemen

BRKlassik01 Webseite (deutsch): Klaus Meyer: „Gymel - Klangvoller Zwiegesang“, digital „BR Klassik“, 2018. Online: BR Klassik

Crickmore01 Artikel (englisch): Leon Crickmore: „New Light On The Babylonian Tonal System”, in „ICONEA 2008” Proceedings, S. 11-22. Online: musicircle online, Academia online.

Dumbrill01 Artikel (englisch): Richard Dumbrill: „The Truth about Babylonian Music”, digital „Near Eastern Musicology Online” 4 (6), 2017, S. 91–121. Online: Academia online.

Franklin01 Artikel (englisch): John C. Franklin: „Diatonic Music in Greece: A Reassessment of its Antiquity”, Zeitschrift „Mnemosyne” 56.1 (2002), 669-702. Online: Academia.

Geraldus01 Zitat aus Buch (englisch): Original (Latein): Geraldus Cambrensis: „Descriptio Cambriae”, 1193. Übersetzung (englisch) von Sir Richard Colt Hoare, 1806: Gerald of Wales: „The Description of Wales”, Verlag J. M. Dent, 1912. CHAPTER XIII, OF THEIR SYMPHONIES AND SONGS, „In their musical concerts [...][the Welsh] do not sing in unison like the inhabitants of other countries, but in many different parts; so that in a company of singers, which one very frequently meets with in Wales, you will hear as many different parts and voices as there are performers, who all at length unite, with organic melody, in one consonance and the soft sweetness of B flat. [...] [They haven't] acquired this peculiarity by art, but by long habit, which has rendered it natural and familiar; [...] As the English in general do not adopt this mode of singing, but only those of the northern countries, I believe that it was from the Danes and Norwegians, by whom these parts of the island were more frequently invaded, and held longer under their dominion, that the natives contracted their mode of singing as well as speaking.” Online: Gutenberg.org

Hagel01 Artikel (englisch): Stefan Hagel: „Is nīd qabli Dorian? Tuning and modality in Greek and Hurrian music”, Zeitschrift „Baghdader Mitteilungen” 36, 2005, S. 287–348. Online: univie.ac.at.

Hagel02 Artikel (englisch): Stefan Hagel: „The birth of European music from the spirit of the lyre”, In: G. Kolltveit/R. Rainio (eds.), „The Archaeology of Sound, Acoustics and Music”, Studies in Honour of Cajsa S. Lund, Publications of the ICTM Study Group for Music Archaeology, Vol. 3, Ekho Verlag, Berlin 2020, S. 151–169. Online: univie.ac.at.

Kilmer01 Artikel (englisch): Anne Draffkorn Kilmer: „The Cult Song with Music from Ancient Ugarit : Another Interpretation”, Zeitschrift „Revue d’Assyriologique” 68, 1974, S. 69–82. Online: jstor.

Kilmer02 Artikel (englisch): Anne Draffkorn Kilmer: „Mesopotamian Music Theory since 1977”, „Music in Antiquity: The Near East and the Mediterranean”, Zeitschrift „Yuval. Studies of the Jewish Music Research Centre”, 2014 Heft 8, S. 92–101. Online: jewish-music.huji.ac.il.

Massey01 Buch (englisch): R. Massey and J. Massey: „The music of India”, New York, Crescendo Pub. 1976, S. 12-13, auch Kahn & Averill, 2006, Online: Internet Archive.

Miller01 Zitat aus Buch (englisch): Hugh M. Miller: „History of Music”, Verlag „Barnes & Noble Inc.”, 1960, S. 23: „The practice of singing a given melody in thirds was called gymel or cantus gemellus (i.e., 'twin song'). This practice seems to have had no connection with ecclesiastical developments in organum and it may have existed prior to organum. It was probably of Welsh or English origin.”

Rahn01 Artikel und Webseite (englisch): Jay Rahn: „Was Mesopotamian Tuning Diatonic? A Parsimonious Answer.”, digital „Music Theory Online” MTO 28.1, 2022. Online: MTO.

Riemann01 Zitat aus Buch (deutsch): Hugo Riemann: „Geschichte der Musiktheorie im IX.-XIX. Jahrhundert“, Max Hesse's Verlag, 1898, S. 25. „Wenn es wahr ist, was Gerald De Barri (Giraldus Cambrensis) berichtet, dass im Norden Europas das mehrstimmige Singen seit uralten Zeiten populär war, so wird aber diese naturwüchsige Mehrstimmigkeit schwerlich dem Organum [...] entsprochen haben, sondern vielmehr werden statt der Quarte und Quinte die Terz und Sexte die Vorzugsintervalle gewesen sein.“ Online: archive.org

Sanders01 Artikel (deutsch): Ernest H. Sanders: „Die Rolle der englischen Mehrstimmigkeit des Mittelalters in der Entwicklung von Cantus-firmus-Satz und Tonalitätsstruktur”, Zeitschrift „Archiv für Musikwissenschaft” 24. Jahrg., H.1., 1967, S. 24-53. Online: jstor.

Schubert01 Video (deutsch): Volker Schubert: „Physikalische Natur der Intervalle (in der Musik) - Teil 1 - Frequenzverhältnisse”, Youtube. Online: Youtube.

Stackexchange01 Foren-Diskussion (englisch): Diverse: „When was the beginning of polyphony?”, digital „music.stackexchange”, 2019ff. Online: Stackexchange

UniCam01 Webseite (englisch): University of Cambridge: „Earliest known piece of polyphonic music discovered”, digital „University of Cambridge”, 2014. Online: University of Cambridge

Bildnachweise

Monochord01 Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Monochord.Deutsches.Museum.jpg. Lizenz: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication. Ort: Deutsches Museum.

StandarteUr01 Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Ur_lyre.jpg. Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license. Autor: www.britishmuseum.org/collection/object/W_1928-1010-3. Ort: British Museum.

Kithara01 Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Muse_lyre_Louvre_CA482.jpg. Lizenz: Public domain. Ort: Museum Louvre.

Markusdom01 Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Venice_-_St_Mark%27s_Basilica_-_20170919113900.jpg. Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International. Autor: Rob Hurson.

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